Dieser Heimatteil von mir

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‚Blink’ machte der Rauchmelder. Ein rotes ‚Blink’. Das hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich lag auf dem Fußboden zwischen Bett und Schrank und machte Dehnübungen.. Dort lag ich schon so oft und machte Dehnübungen. Doch noch nie hatte ich den Rauchmelder blinken sehen. Wenn er das jetzt tut, tut er das aber sicher regelmäßig. In welchem Takt er wohl blinkte. Vielleicht minütlich. Oder öfter. Doch während ich überlegte, waren ja bestimmt schon dreißig Sekunden vergangen. Dann war es vielleicht doch seltener. Ich wartete ab und wollte erst nach dem nächsten Blinken die nächste Übung machen. Ich wusste gerade eh nicht, welche als nächstes. Also war ich über einen unbeteiligten Taktgeber ganz froh.

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Ich wartete weiter und wunderte mich. So oft schon lag ich an dieser Stelle mit dem Blick nach oben und nie hatte ich es blinken sehen. Und jetzt liege ich eine der letzten Male an dieser Stelle und entdecke etwas Neues. In einer Woche reise ich ab. One-way-Ticket nach Mexico. Reisen, Kennenlernen, Wundern, Betten teilen, Busse fahren, Leben, Schreiben. Seit den letzten Wochen rückt dieser Zeitpunkt zähl- und fühlbar näher. Und seit diesen letzten Wochen hat sich auch mein Blick verändert. Je näher das Ferne rückt, umso mehr schärft sich mein Blick für das Nahe. Und wie ich so genau hinschaue, entfaltet jedes Detail etwas wundersam Neues.

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Ursprünglich konnte es mir bei der Planung der Reise gar nicht schnell genug gehen. Am liebsten gleich morgen los. Rückflugticket – brauche ich nicht. Arbeit – kündige ich. Habseeligkeiten – vermiete, verschenke, verkaufe ich. Freunde – nehme ich mit, physisch oder seelisch. Auf auf!

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So in etwa, nur weniger schnell ging es dann auch. Doch was ich völlig vergaß: Die Gefühle für das Nahe. Am Anfang der Reiseplanung steckt der Kopf in der Ferne. Da will ich hin. Doch um dort hinzukommen, muss der Kopf sich dem Hier und Jetzt widmen und organisieren, informieren, arrangieren.

 

Dabei stellt er fest: Alles, was ich hier tue, hat ein Ende. Alles, was zuvor Selbstverständlichkeit hatte, hat ein Ende. Im Lieblingssupermarkt den Lieblingskäse kaufen. Vor der Tür die Parkgewohnheiten der Fahrradfahrer in dem eigentlich zu engen Gang analysieren. Im Lieblingspark um die Ecke dem Typ, der immer die Bäume umarmt, hinterherjoggen. Auch den Baum umarmen wollen. Vom Lieblingstrainer mehrmals wöchentlich schmerzhaft angeschrien werden. Ständig überall den Lieblingsnachbar treffen, nur nie vor der Haustür. Mit Lieblingsfreunden doofe schöne Alltagsbesorgungen machen. Morgens im Büro mit der Küchenfee über Flohmarktgeheimtipps austauschen.

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All das war immer einfach da. Und erst wo es bald nicht mehr einfach da sein wird, merke ich, wie gerne ich es einfach da hatte. Wie ungerne ich es einfach nicht mehr da haben möchte. Eine eigentliche Binse wird mir klar: Man kann tatsächlich nicht alles haben. Die Lieblingsaspekte aus dem Hier bewahren und in die Ferne reisen geht nicht. Um neue Dinge zu tun, muss man auch alte aufgeben. Nur genau diese alten finde ich gerade so wunderschön.

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Irgendwann kommen die Tage der letzten Male und die Abschiedsmelancholie tritt ein. Auch wenn ich mir sicher über mein Reisevorhaben bin, möchte der Heimatteil von mir auch bleiben und bewahren. Und den noch einmal sehen. Und die. Und die auch. All die lade ich noch zu einer Feier ein. Einfach so, um alle noch einmal zu sehen und um eine Feier zu machen, was ich schon immer einmal machen wollte. Es ist bewusst keine Abschieds-, sondern eine Freiheitsfeier. So feiere ich die Freiheit mit allen, die ich gern habe und wir tabuisieren allesamt dabei das Thema Abschied. Es ist ein wundervoller Abend voller wunderbarer Menschen und wundersamer Momente, in dem sich zwei Dinge komprimieren, die sich seit Kurzem in mir manifestieren: 1. Es ist so wunderschön hier. 2. Tschüss sagen ist doof. Und dieser Heimatteil von mir möchte noch mehr bleiben und bewahren.

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Das Gute am morgendlichen Wohnungschaos: Ich kann gleichzeitig sauber machen, ausmisten und einpacken. Verlangsamt durch Melancholie und Partyschläfrigkeit brauche ich ganze drei Tage dafür. Drei Tage voller Orga- und Packkollas und ohne große Emotionen. Vorfreude, Abschiedsschmerz – alles weg. Keine Zeit. Muss packen. Wehmütige Anrufe von Familie und Freunden – keine Zeit. Muss packen.

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Am Ende stehe ich Dienstag Abend, 18 Uhr in meiner Wohnung und es klingelt. Danny steht vor der Tür, er wird meine Wohnung behausen. Ich lasse ihn hinein und präsentiere die ausgemistete, geputzte Wohnung als wär es kein Akt gewesen. Ich werfe noch einmal einen Blick in ein paar Ecken, in ein paar Schränke. Als wüsste ich nicht, was dort ist. Dabei weiß ich es gerade so genau, wie nicht einmal beim Einzug. Nur wird es erst einmal der letzte Blick sein. Ein letztes Mal meiner lieben Wohnung tief in die Augen blicken. Keiner kennt sie so gut wie ich. Keiner kennt mich so gut wie sie. Ob Danny auch irgendwann das rote Blinken entdecken wird?

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Ich verlasse die Wohnung ohne Abzuschließen, Danny schließt die Tür von innen und ich stehe draußen. Die Luft ist frisch und herausfordernd. „Lauf los,! Atme!“, sagt sie. Mein Rucksack auf den Schultern ist jetzt mein neues Zuhause. Ohne mich einmal umzudrehen, trägt er mich durch die Straßen. Plötzlich wird alles real – vorher wusste ich, ich würde gehen. Jetzt spüre ich, ich werde gehen. Die Luft breitet sich in meiner Lunge aus, ich kann kaum genug einatmen. Dort ist so viel Platz, so viel Freiheit. Die Entfernung zur Wohnungstür wird immer größer. Der Rucksack wird immer leichter. Je weiter ich mich entferne, umso schwächer wird die Verbindung. Es fühlt sich an, als würde die Nabelschnur von mir zu meiner Wohnung langsam durchtrennt werden. Mit weiterer Entfernung dehnt sie sich immer mehr aus. Bis die sich schnell schließenden Ubahn-Türen sie durchtrennen. Piiiep – Bum – Abgeschnitten.

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Die letzte Heimatnacht ist gleichzeitig die erste Freiheitsnacht. Auf dieser Metastation schlafe ich drei Stunden bei einem Freund Zuhause und mir wird klar: Erst in den letzten wenigen Tagen ist mein Zuhause zu meiner tatsächlichen Heimat geworden. Noch nie vorher habe ich es so bewusst wahrgenommen und genossen. Es ist ein tolles Gefühl, denn ich weiß: Genau in diese Heimat kann ich jederzeit zurückkehren.

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Und dann geht’s los. Um fünf Uhr morgens stehe ich am Hamburger Flughafen. Schlaftrunken und von allen Habseeligkeiten befreit lasse ich nun alle Seeligkeiten der Heimat hinter mir. Doch ich bin nicht allein, denn ein großes kleines Stück von all der heimatlichen Schönheit habe ich bei mir: Sany. Freundin, Reiseseelenverwandte, Heimatherz. Mehr brauche ich nicht, um heraus zu finden, wann mein Rauchmelder ein zweites Mal blinkt.

Abflug

 

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