Endlich am Meer! Das Wasser war so nah, dass wir es quasi riechen konnten. Meine Freundin Isi und ich kamen gerade aus Marrakesh. Dem lauten, wuseligen, aufgeheizten Marrakesh. Das war toll, aber jetzt waren wir in einem kleinen Küstendorf. Dem ruhigen, verlassenen, aus einem Strand bestehenden Küstendorf. Und das sollte noch besser sein. Unsere Idee: Hier wollten wir surfen und sein. Mehr hatten wir hier gar nicht vor.
Allerdings sah es an diesem Ankommabend so aus, als könnte man noch nicht einmal das: Tiefer, dichter Nebel lag in der Luft. Es war kein Meer, kein Strand, kein Mensch und kein Ort zum Sein zu sehen. Wir saßen im Taxi, das uns zur Unterkunft bringen sollte. Das Taxi kannte den Weg, wir nicht. Wir hofften nur, dass es hier nicht anhalten würde. Doch genau dann fuhr es auch noch einen kleinen Berg hinauf. Den Berg hinauf liegt das Meer meistens nicht. Wir hatten eher gehofft, den Berg hinab zu fahren. In einer Mini-Wohnsiedlung auf dem Hügel spuckte es uns aus und fuhr ohne uns wieder bergab.
Fünf Minuten später saßen wir da – auf dem Dach unserer Surfunterkunft, die keine Surfunterkunft war. Vielmehr eine hübsche, heimelige marokkanische Villa. Die Villadame hatte uns zwar kurz begrüßt, aber war gleich wieder in ihre Gemächer geschwebt. Sonst gab es hier anscheinend niemanden. Die Dachterasse sah aus, als sei sie am Tage eine mit fantastischem Blick auf das kleine Tal bis ans Meer. Doch auch hier baute sich direkt davor eine Wand aus dickem Nebel auf. Wir kramten noch unsere letzten Essensreste und unsere dicken Pullis aus den Rucksäcken und fanden, dass dieses traurige Resteessen wunderbar in die verhangene, kalte, einsame Atmosphäre dieses Ortes passte.
Am nächsten Morgen saß unser Surflehrer Zak pünktlich um neun Uhr am Frühstückstisch. Wir nicht. Denn wir hatten unsere Uhren noch auf falscher Zeit. Auch der Nebel war pünktlich. Doch jetzt wurde er von der Sonne in warmes Licht gehüllt. Wir lernten über den Nebel, dass er da ist, wenn es im Inland besonders warm ist. Dann drückt die warme Inlandsluft gegen die kalte Atlantikluft und dieser Nebel entsteht. Na gut, wenn man weiß, wo es herkommt, mag man es meist auch schon ein bisschen lieber.
Schon ab dem ersten Wasserkontakt zählten eh nur noch die Wellen und der Nebel war vergessen. Wir hatten einen fröhlichen, wellenreichen Surftag, an dem wir Lounes kennenlernten. Lounes und seine Hütte. Denn das eine gibt es nicht ohne das andere und vice versa. Lounes ist ein passionierter, marokkanischer Surfer, dessen Leben vom Strand bestimmt wird. Lounes’ Hütte ist eine einfache, selbstgebaute Holzhütte, dessen Leben auch vom Strand bestimmt wird. Denn genau dort steht sie. Auf einem erhöhten Vorsprung gleich über dem Meer.
In ihr befinden sich so viele Surfbretter, dass sie wahrscheinlich zusammenfallen würde, würde man diese entfernen. Breiter als ein Surfbrett ist sie auch nicht, fast ihr ganzer Innenraum ist davon eingenommen. Nur eine kleine Seite ist abgetrennt, in der Lounes wohnt. Dort ist ein Bett und eine kleine Küchenzeile eingebaut. Die dient als Ablage für Geschirr, Boardleashes und Kleidung. Kleine selbstgebaute Regale darüber verstauen alles, was man für die marokkanische Küche braucht: Kümmel, eine Tajine und ein stumpfes Messer. Gleich über dem Bett ist ein Fenster, nur mit bunten Tüchern abgehangen. Von dort aus checkt Lounes jeden Morgen die Wellen und entscheidet, ob es sich lohnt aufzustehen. Strom und Wasser gibt es nicht, braucht man aber auch nicht. Wasser ist in Meermenge vor der Tür und Feuer ist eh der bessere Strom.
Die komplette Hüttenfront zum Meer öffnet Lounes jeden Morgen, nachdem die Wellen ihm zum Aufstehen bewegt haben. Als würde auch dann erst die Hütte aufwachen und ihr großes Auge öffnen. Dann weiß jeder, jetzt ist man willkommen. Davor ist eine kleine Terrasse mit einem kleinen selbstgebauten Geländer. Die Terrasse hat den perfekten Winkel, sodass man ganz viel Meer, ein bisschen Strand und gar keine Straße, Autos oder Häuser sieht. Deswegen fungiert sie auch als Magnet aller lokalen Surfer. Jeder von ihnen, der zum oder vom Strand kommt, kommt erst einmal hier vorbei – und bleibt auch meistens hier hängen. Genau wie wir.
Nach unserer Surfsession hingen wir uns mit auf die Terrasse und gehörten schon gleich genau so dazu, wie die streunenden Katzen, die ständig vorbeikamen. Oder auch hier wohnten, das wusste keiner genau. In einem Trog entdeckten wir eine Treibholzsammlung, die Lounes immer mal wieder nach stürmischen Meerzeiten am Strand aufsammelt und sich daraus Hüttendeko bastelt. Mithilfe des stumpfen Küchenmessers und etwas Kaugummi schnitzten und klebten wir ein Segelboot, ein Seeungeheuer, ein Auto mit Surfboardtragefläche und einen Wendefrosch, der auf dem Kopf ein Huhn war. Stundenlang saßen und schnitzten wir seelenruhig an dem Treibholz.
Nebenbei kam immer wieder ein anderer Surferfreund vorbei, setzte sich dazu, lieh sich ein Board aus oder machte was immer er wollte. Denn in diesem Hütten-Mikrokosmos konnte jeder einfach tun, was er tun will. Ab und an ging jemand zum benachbarten Fischrestaurant und holte Tee. Tee ist wichtig in Marokko, denn der wird vor dem Essen, nach dem Essen und immer zwischendurch getrunken. Dabei ist wichtig, dass er vor Zucker knirscht und dass er richtig gemischt ist – und das ist er nur, wenn er von weit oben mit viel Gefühl ins Glas gegossen wird.
Irgendwann kam ein Freund und brachte frische Sardinen mit. Die wurden, wie sie waren, auf’s offene Feuer gelegt und anschließend von allen, die gerade da waren, gemeinsam gegessen. Einfach mit den Fingern vom Tisch. Danach wurden Finger und Tisch zum Meer gebracht und dort gewaschen.
Ein anderer Freund ging zwischendurch nach Seeschnecken tauchen. Gleich an dem Fels auf dem die Hütte steht, gibt es im Wasser besonders viele Schnecken. Als er wiederkam, holte er aus jeder Öffnung seines Wetsuites frische Schnecken. Alle freuten sich schon, diese am Abend auf’s Feuer zu schmeißen.
Von da an gingen wir jeden Tag hier surfen. Ab dem ersten Tage war unser bester Freund die Hütte. Sie hieß uns jeden Morgen offenen Herzens willkommen, nachdem sie ihr Luckenauge geöffnet hatte. In ihr verbrachten wir unsere gesamte Surfwoche, die wir in diesem Küstendorf verbringen wollten. Gingen surfen, bastelten aus Treibholz, sangen marokkanische Lieder, gingen nochmal surfen, grillten Fisch, schnippelten marokkanischen Salat, mixten und tranken Tee und machten das Fischrestaurant sauer, weil wir nie die richtigen Teegläser zurückbrachten.
Schon am ersten Abend waren wir so angekommen, wie wir nur ankommen konnten. Wir lagen abends im Villabett und fragten uns, ob das wirklich nur ein einziger Tag war. Und wo der Nebel eigentlich sei. Wir stellten fest, alles, was wir an diesem Tag gemacht hatten, war: Surfen und Sein.
Mitte der Woche diskutierten wir mit Lounes, ob wir nicht mit einziehen sollten. Halb Scherz, halb Ernst. Wir waren so überwältigt und überzeugt von dem Hüttenleben, dass wir es abends nicht verlassen wollten. Tagein tagaus nach der Welle leben und in jeder Sekunde einfach tun, wonach uns die Nase steht. Uns vom Meer, den einfachsten Mitteln und den Nachbarn ernähren. Den Rest der Woche lebten wir, als sei dies tatsächlich alleiniger Inhalt unseres Lebens. Und stellten fest: Das ist wunderbar. Aber das ist zu leer. Für eine bestimmte Zeit in diesen Mono-Mikrokosmos einzuziehen, war wunderbar. Das Gefühl, den eigenen Kosmos nicht irgendwann wieder mit mehr Vielfalt zu füllen, war lähmend. Als die Hütte am letzten Tag ihr Auge für uns öffnete und uns einlud noch länger zu bleiben, verabschiedeten wir uns unter großer Trauer dennoch. Und vermissten die Hütte sofort. Bis heute.
Habt ihr auch schon einmal mit solch schwerem Herzen einen Ort verlassen?