Die Uhrzeit des Meeres

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Ein kleines Dorf macht der großen Welt vor, wie es geht: Alle zusammen und jeder wie er will.

Urfrüh waren wir aufgestanden. Zak hatte darauf bestanden, Punkt acht Uhr loszufahren. Ohne Frühstück. Zak war unser Surflehrer und was er sagte, war Gesetz. Im Wasser und an Land, wie meine Freundin Isi und ich gelernt hatten.

Also saßen wir hungrig, frierend und schlaftrunken in Zaks Truck. Wir hatten die Nacht zuvor bis fünf Uhr früh Barbeque am Strand gemacht. Da war der Mond noch klar und warm gewesen. An diesem Morgen war alles feucht und kalt und der Nebel so dicht, dass uns alles weiter als eine Armlänge entfernt, verborgen blieb. Dies galt auch für den Abgrund der Bergserpentinen, die wir anscheinend mit Highspeed durchqueren mussten. Und für die entgegenkommenden Geisterautos, die immer wieder plötzlich zwei Meter vor uns im Nebel erschienen. Die Surfbretter oben drauf, die Wetsuites hinten drin und das Bett weit weg waren wir auf dem Weg in ein kleines Dörfchen an der marokkanischen Küste zwischen Tagazhout und Essaouira, um die perfekte Welle zu surfen.

 

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Dort angekommen, war die Sonne aufgegangen, der Morgennebel etwas verschwunden und die perfekte Welle am morgen schon wieder von der Flut verschlungen. Es würde aber noch eine in der Abendebbe geben. Bis dahin hatten wir also noch einen ganzen Tag Zeit. Wir setzten uns mit Zak und Abs, ein befreundeter Surfer, zum Frühstück nieder. Es gab typisch marokkanisches Frühstück, was wir eh liebten, aber an diesem Morgen ganz besonders: Brot, Schmelzkäse, Olivenöl, Amlou, Eier, Tee und kein Besteck. Das perfekte Arrangement. Auch wenn man eigentlich nur Amlou bräuchte – eine Paste aus Nüssen, Arganöl, Honig und einem Stück Himmel. Anders kann ich mir Amlous überirdische Herrlichkeit und jedesmal schnelles Allesein nicht erklären.

 

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Statt Besteck gibt es Brot, mit dem man alles andere aufnimmt. Am Besten so gekonnt, dass man mit den Fingern nichts außer des Brots berührt. Statt Tellern gibt es den Tisch, auf dessen Oberfläche man alles andere ablegt. Anschließend werden eben Finger und Tisch zum Meer gebracht und dort gewaschen. Die Marokkaner haben vielleicht nicht viel, aber dafür nutzen sie das, was da ist, vollends aus. Ein Tisch wird eben komplett vollgeschmiert, eine einfache Axt wird als Universalwerkzeug benutzt, ein Glas genügt auch für die ganze Runde. Und mit Kaugummi lässt sich so einiges kleben. Zum Zucker im Tee verrühren braucht man auch keinen Löffel. Er wird von weit oben in Becher gegossen – und die wieder zurück in die Kanne. Mehrmals, bis der Zucker gelöst ist. So kann man auch mixen. Diese Nähe zu den Dingen hat sich während meiner Reise in den vielfältigsten Ausprägungen immer wieder beeindruckend gezeigt. Als ich irgendwann später wieder an einem sehr europäisch gedeckten Tisch saß, fand ich Besteck absurd. Es stellte so eine unnatürliche Distanz zum Essen her.

 

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So einfach und gut versorgt, hatten wir einen wunderbaren Blick auf das Dorf. Darüber lag den ganzen Tag ein halbtransparenter Nebel. Sodass hier nicht diese typische betäubende Stimmung der heißen hellen Sommersonne herrschte, in der irgendwie alles egal ist. Es war eine eher mystische Stimmung, die dem Dorf eine leichte Schwere gab. Jedes Geschehnis wirkte dadurch wie ein wichtiges.

 

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Das Dorf ist ein traditionelles Fischerdorf, das jeden Morgen von Fischern und Fischen bewuselt wird. Nachdem frische Fische und blaue Boote vom Meer an Land geholt wurden, gibt es jeden Morgen eine große Fischauktion. Restauranteinkäufer aus der ganzen Region kommen dort hin, um die Frischfischration für den Tag zu ersteigern. Und das schon immer. In der einzigen Halle direkt am Meer ist in der Mitte ein abgezäunter Bereich. Wie eine Boxarena mit Ring. Dort drin steht der allmächtige Schiedsrichter im weißen Kittel und wiegt und bietet die Fische an. Alle anderen stehen um den Ring herum und schreien laut ihre Angebote durcheinander, wie Schreie des Anfeuerns. Die wirken: Es wird verkauft, eingetütet, nächster Fisch.

 

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Seit einigen Jahren sind die Fischer aber nicht mehr nur unter sich. Auch die Surfer haben dieses Dorf entdeckt. Zweimal am Tag gibt es perfekte Wellen im perfekten Panorama. So wuseln unter den traditionellen Fischern jetzt auch täglich moderne Surfer umher – was ein absurd widersprüchliches Bild ergibt: Alte Männer in Fischerhosen mit Fischeimer in der Hand und junge Männer in Boardshorts mit Surfbrettern in der Hand. Man könnte meinen, versehentlich zwei Parallelwelten aus verschiedenen Zeiten gleichzeitig zu sehen.

 

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Das Dorf besteht aus nur drei Straßen, auf denen man innerhalb von fünf Minuten von einem ans andere Ende des Dorfes gelaufen ist. Was man währenddessen aber sieht, ist in fünf Minuten nicht aufzuwiegen. Es reihen sich Fischshops und Surfshops aneinander. Tritt man in einen Fischerladen ein, begegnet einem respektvolle Zurückhaltung. Der Fischer will gar nicht unbedingt kommunizieren, er weiß auch nicht recht, wie er einem entgegen treten und welche Sprache er mit einem sprechen soll. Das scheint ihn aber nicht zu stören, vielmehr strahlt er eine entspannte Gleichgültigkeit aus. Tritt man gleich nebenan in einen Surfshop ein, entfernt man sich nicht nur um eine Wand, sondern auch um eine Welt: Man wird lässig auf Englisch mit Hang-Loose begrüßt, nach der aktuellen Welle und dem aktuellen Board gefragt, bekommt eine ausführliche Shopbegehung und Wlan-Nutzung angeboten.

 

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Manchmal passiert es auch, dass ein Surfer einen Fischimbiss aufmacht. Hier mischen sich dann beide Welten. Der Stolz und das Wissen um den traditionellen Fischfang mit dem weltoffenen Aloha.

 

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Die Surfer sind in Marokko das Sinnbild der progressiven Marokkaner. Durch den Tourismus haben sie viel Kontakt mit anderen Nationen, vor allem Europäern. So verbringen viele von ihnen mehr Zeit mit Europäern als mit Einheimischen. Sie haben Freunde überall in der Welt, sind mit Surfern in einem internationalen Netzwerk verknüpft oder haben sogar europäische Partner. Sie kennen das freie, europäische Leben und sind teilweise zwischen diesem und dem traditionellen marokkanischen Leben hin- und hergerissen. Die Fischer sind das Sinnbild der marokkanischen Tradition. Sie leben meist in den kleinsten Dörfern, haben ihren ganz eigenen Rhythmus, machen Geschäfte mit den lokalen Marokkanern und bleiben meist in ihrem kleinen sozialen Kreis aus Familie und Fischerfreunden.

 

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Dieses kleine Dorf ist ein Ort des größten Kultur Clashs im eigenen Land. Und dennoch macht es aus diesem Clash eine Mélange. Denn dieser Mix aus zwei Welten funktioniert ganz wunderbar und voller Respekt füreinander. Fischer und Surfer grüßen sich warmherzig gegenseitig. Manche sind befreundet. Oder gar aus einer Familie – der Vater Fischer, der Sohn Surfer.

 

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So unterschiedlich scheinen sie dann doch gar nicht zu sein – die Fischer in ihren festgewachsenen Angelhosen und die Surfer in ihren festgewachsenen Boardshorts, die beide nach der Uhrzeit des Meeres leben. Dieses Fischer-Surfer-Dorf schafft, was die Welt versucht: Trotz Gegensätzlichkeit in harmonischer Gemeinschaft leben. Und immernoch gilt: Boote haben Vorfahrt.

 

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