Das Himmelsdiktat

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Dieser Berg, den wir gerade hoch fuhren, schien bis zum Mond zu gehen. Es wurde immer dunkler, immer kälter und immer höher. Der Berg steht mitten im marokkanischen Atlas Gebirge zwischen Marrakesh und Agadir und wir waren auf dem Weg zu seinem Gipfel. Ein schöner Berg war das – groß, mächtig, schöne mystische Vertiefungen hier und da, überall Wildschweinspuren und grüne Pflanzen. Yaniz fuhr uns sicher durch seine Serpentinen. Yaniz ist eigentlich ein Surffotograf, der gerade mit Derek Hynd, einem professionellen Surfer, einen Surffilm dreht. Beide lernten meine Freundin Isi und ich auf Marokkos Straßen kennen und reisten seitdem mit ihnen weiter.

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Beide sind eine beeindruckende Begegnung. Yaniz, der überorganisierte Netzwerker, kennt alles und jeden in Marokko. Insbesondere die einflussreichen Menschen, mit denen er ständig Schulterschluss betreibt. Und die monotalentierten Menschen, mit denen er unzählige Projekte hat. Und die anpackenden Alleskönnermenschen aus den Bergdörfern, denen er immer wieder Aufträge erteilt. Wenn wir Auto fahren, natürlich fährt er, telefoniert er die ganze Zeit und organisiert Menschen, Dinge, Projekte. Auch Isi und ich fühlen uns wie ein Projekt von ihm. Ein Projekt, das ständig gut umsorgt, von A nach B gebracht und beeindruckt werden muss. Denkt er. Er sagt, nichts ist unmöglich, man muss es nur aussprechen.

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Derek ist eher das Gegenteil. Eine ruhige Surferseele, der jeden Moment genießt und versucht das Leben spirituell zu erfassen. Seine Uhr sind die Wellen. Derek stellt große Lebensfragen und umarmt nur Herz an Herz. Als er vor vielen Jahren bei einer Surfcompetition durch eine Finne sein linkes Augenlicht verlor, erfand er das Surfen ohne Finne. Seitdem tanzt er wunderschön auf den Wellen und hat viele Anhänger, die ihn als Inspirationsguru sehen. Er sagt, Surfen ist der konservativste Sport der Welt, denn niemand hat jemals etwas geändert.

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Es gab noch einen Dritten im Bunde: David, ein Freund von Yaniz, der zwischendurch zu unserer kleinen Reisefamilie gestoßen ist. David ist groß, breit und unglaublich viel Mann. Ein Amerikaner, der drei Jahre in Tokio lebte, es daher gewohnt ist, der Große zu sein und dort mehrmals Weltmeister im Sumoringen war. Überall und ständig macht er daher Dehnungsübungen oder Tai Chi. Als Bob Marley auf Tournee in Tokio war, war es David, der ihm Gras verkaufte und es mit ihm rauchte. Dadurch fühlt er sich ihm heute noch immer nah. Er sagt, es gab nie wieder einen echten Reggaemusiker wie Bob.

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Alles in allem reisten wir unheimlich gerne mit diesen drei ausgeprägten und ausgeprägt unterschiedlichen Persönlichkeiten quer durch Marokko. Nun waren wir auf dem Weg zu einem von Yaniz’ Projekten. Auf diesem einen Berg zwischen Marrakesh und Agadir hatte er eine besondere Atmosphäre entdeckt, die nachts so kippt, dass eine außerordentliche Klarheit auf dem Gipfel entsteht, die alle Astronomen mit den Ohren schlackern lässt.

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Gemeinsam mit einem Astronomieprofessor führt er dort Messungen durch und hat die wilde Idee, auf dem Gipfel ein Hotel für astronomieinteressierte Touristen zu bauen. Vom Laien, der einfach mal die Milchstraße von Nahem sehen will bis zum Experten, der dort seiner Forschung nachgehen kann. Noch steht aber nichts, bis auf den Astronomieprofessor und sein Teleskop. Doch da mussten wir erst einmal hinkommen.

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Mit unserem kleinen Familienauto kamen wir nur bis zu einer Zwischenstation kurz vor dem Gipfel. Dort zogen wir alle erst einmal alle Kleidung an, die wir im Dunkeln finden konnten. Denn am Bergfuß war noch leuchtender Sommer. Hier oben schien es, als gäbe es eine fünfte Jahreszeit. Irgendeine zwischen kalter Sommernacht und hoffnungsvollem Winter. In diesem Sommerwinter war es definitiv windig und kalt. Unsere vortägige Bazarbeute kam hier allen gut zu Nutze: Eine Meute an marokkanischen Mützen, die wir auf den Köpfen unserer Begleiter verteilten.

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Ab hier war unser Familienauto nicht mehr zu gebrauchen. Wir ließen es stehen und beluden die Ladeflächen zweier Trucks mit einem Haufen an Matratzen und Decken für die kalten Gipfelnächte und setzten uns noch oben drauf. Die Trucks gehörten zu Aisa und Mohammed, zwei Berber aus den Bergdörfern. Oder vielmehr die einzigen zwei Berber, die in der Lage waren, uns den Berggipfel hinauf zu fahren. Denn die Straße war gar keine Straße, sondern einfach nur die Seite des Berges, welche die beiden mit ihren Trucks wie Bergziegen erklommen. Ihr Leben lang schon verbringen sie in diesen Bergen. Dabei hat sich ihre Erdanziehungskraft stärker ausgeprägt als die von anderen Menschen. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie sie uns dort hinauf bringen konnten. Selbst wenn eine Erbse unter dem Matratzenhaufen gelegen hätte, wir hätten sie nicht gespürt. Die Herausforderung lag darin, nicht von der Ladefläche und direkt tausende Meter hinab zu stürzen.

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Neben ihrer übernatürlichen Gravitation, erscheint auch das gesamte Leben der Berber wie in einem Paralleluniversum. Ohne Anschluss an die Zivilisation leben sie in ihren kleinen Dorfkommunen. Die Dörfer scheinen wahllos in unbebaubare Bergschluchten hineingebaut, alles Leben dreht sich um einen Brunnen und wer das frische Gras für die Esel den Berg hinauf trägt. Von morgens bis abends wuseln und arbeiten sie, scheuchen ihre Esel oder ihre Kinder umher. Die größte Beleidigung für einen Berber lautet ‚Dein Vater ist in seinem Bett gestorben!’ Denn ein würdevoller Berber ist nie in seinem Bett, sondern bis zuletzt bei der Arbeit in den Bergen. Sie leben nicht nur woanders, sie leben auch wann anders. Wenn man sie fragt, welches Jahr gerade ist, antworten sie 2964. Wir fuhren also nicht nur gen Gipfel, sondern auch gen Zukunft.

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Der Gipfel war unheimlich klein. Obwohl der Berg unheimlich groß war. Wie ein Riese mit einem Minikopf. Seine riesige Bergkörpermasse mündete an seinem Kopf in einem Plateau von wenigen Metern Durchmesser. Zu nah an den Abgrund wollte man auch nicht treten, was den Gipfelkopf noch kleiner machte. Trotz der Höhe und Gewalt des Bergriesen, war man hier auf minimalstem Platz gefangen. Und kahl war sein Haupt auch noch: Keine Tiere, kaum Vegetation, wenig Sauerstoff. Aber eine Sache war da: Der Astronomieprofesor und sein großes Teleskop. Ein absurder Anblick, als seien beide dort aus einer anderen Zeit hingebeamt worden. Was ich dieser Zukunft hier zugetraut hätte.

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Sabyll, der Astronomieprofessor, hatte sich eine kleine Steinhöhle gebaut, in der er schlief. Eine Steinhöhle, wie man sie eher in der Steinzeitvergangenheit als in der Bergzukunft erwartet hätte. An der Seite war ein Abzugsloch, das den Rauch des lodernden Höhlenlagerfeuers hinaus transportierte. Sabyll hatte dafür genau die richtige Zirkulation berechnet. So einfach und so gut und so warm. Dennoch zu klein für alle von uns. Wir bauten unser Matratzenlager draußen unter freiem Himmel auf und gesellten uns alle um das Teleskop.

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Das Panorama war unglaublich. Die Wolken waren unter den Gipfel gesunken, sodass sie aussahen wie das Meer. Die anderen Berggipfel um uns herum schienen wie kleine, einsame Inseln im Wolkenmeer. Als könnte man springen und schwimmen. Die Sterne waren greifbar nah und spendeten so viel Licht, wie der Mond es im Tal noch nie getan hatte. Der Mond war noch nicht aufgegangen und der Himmel von einer Klarheit, wie ich es ihm nie zugetraut hätte. Sabyll stellte für uns das Teleskop ein. Auf einer kleinen Fernbedienung mit vielen Tasten, konnten wir statt Pro7 einfach Pluto auswählen. Den steuerte das Teleskop dann an und wir sahen sie alle: Den Saturn mit seinem Ring, explodierte Sterne, implodierte Sterne, kleine Galaxien und später auch den Mond. Allerdings mit einer dicken Bazarwollmütze vor dem Teleskopobjektiv, da er sonst so viel Licht abgegeben hätte, dass der Durchblickende erblindet wär.

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Schon nach der ersten Nacht fühlten wir uns wie eine Woche dort oben. Der Gipfel war so klein, dass wir jeden vertrockneten Strauch auf ihm kannten. Die Menschen waren so nah, dass wir ihren Geruch, ihr Schnarchen und ihre Ticks kannten. Doch der Himmel war so mystisch, dass er jede Minute anders aussah.

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Ganze zwei Tage und zwei Nächte blieben wir dort oben. Alles, was wir taten, war mit dem Himmel zu leben. Wurde es dunkel, schauten wir Sterne durch’s Teleskop an. Wurde es hell, standen wir mit der Sonne auf. Wurde es windig, versteckten wir uns im Matratzenlager. Wurde es durch die Sonne heiß, versteckten wir uns auch im Matratzenlager. Die Natur hatte hier das absolute Diktat. Nachts hörten wir immer Sabylls Jubelrufe „+0,0372!“ Er brach ständig Weltrekorde im Genauigkeitsmessen von Sternen.

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Je länger wir hier waren, umso weniger nahmen wir den schnell endlichen Minigipfel war. Denn über uns war der niemals endliche Weltraum. Alle Augen schauten die ganze Zeit nach oben. Wenn man so weit oben ist und der Blick noch weiter hinauf gerichtet ist, vergisst man das Unten. Nichts war mehr wichtig, außer wir und der Himmel. Unsere Verpflegung würde ein Ende haben, doch der Himmel würde jeden Abend wieder sternhell werden. Bis in unser 2964.

 

1 comment

  1. Lena!

    Ähnlich wie die Berber brachtest du mich für einige Momente auf diesen Berg, dort wo das Teleskop die Sterne televisioniert. Auf die Fernbedienung getippt und ein Kopfkino als Kurzfilm erschien. Eine schöne Geschichte!
    Besonders gefiel mir aber etwas simples, geerdetes. Es war deine Beschreibung der Personen, die detailliert genug und doch kurz war, um sich den Menschen vorstellen zu können, ohne vom Erzählpfad abzukommen.

    Dank für das Teilen dieser Geschichte! Ich freue mich auf neue, vom anderen Kontinent.
    Alles Liebe,
    Vadim

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